Die erste Generation der großen japanischen Instruktoren in Europa umfaßt vier Meister: Taiji Kase (verstorben 2004), Hirokazu Kanazawa (jetzt Chief-Instructor der von ihm gegründeten Shotokan Karate International), Keinosuke Enoeda (verstorben 2003) und Hiroshi Shirai. Diese vier Meister unterrichteten als erste JKA-Instruktoren überhaupt in Deutschland. Auf dem legendären DKB-Wochenlehrgang in Bad Godesberg im April 1965 führten sie die erste Dan-Prüfung in Deutschland aus und graduierten die ersten vier deutschen Karateka nach dem Gründer des deutschen Karate, Jürgen Seydel, zum Shodan. Diese vier Karateka waren Manfred Grichnik, Werner Popp, Albrecht Pflüger und Fritz Wendland.
Unvergeßlich sind die Freikampf- und Selbstverteidigungsvorführungen der damals 28 bis 34 Jahre alten Instruktoren vor einem großen Publikum bei der 2. Deutschen Meisterschaft am 9. April 1965 in der Stadthalle Bad Godesberg.
Nachdem Meister Shirai bereits bei dem ersten deutschen Gasshuku 1974 in Kiel und dem Kata Special im Mai 2001 in Göttingen unterrichtet hatte, machte er sein Versprechen von damals wahr und kam zum Gasshuku 2005 nach Hannover.
Hiroshi Shirai wurde am 31. Juli 1937 in der Nähe von Nagasaki geboren und erlebte den zweiten Atombombenabwurf am 9. August 1945 als achtjähriger Schüler. Nach dem Abschluß der Highschool ging er 1955 zum Studium der Geographie an die Komazawa-Universität nach Tokyo. Nachdem er an der Highschool und im ersten Jahr an der Universität Leichtathletik betrieben hatte, wandte er sich 1956 dem Karate zu. Ein wesentliches Motiv, sich dem Karate zuzuwenden, war die Lebenseinstellung eines Onkels gewesen, der Kendomeister war.
Hidetaka Nishiyama unterrichtete als erster Lehrer den jungen Studenten im Karate. Der seit Jahrzehnten in den USA lebende Nishiyama zählte bis zu seinem Tod zu den bekanntesten Karate-Instruktoren weltweit. Nach dem Abschluß des Universitätsstudiums wechselte H. Shirai an das Honbu Dojo der Japan Karate Association und begann die zweijährige Ausbildung in der Instructor-Class, die er 1962 abschloß. Im gleichen Jahr gewann er die All Japan JKA Karate Championships im Kumite- und Kata-Shiai (Grand Champion). Mit dem Erwerb des Instructor-Diploms lehrte H. Shirai Karate an seiner ehemaligen Universität Komazawa sowie am JKA Honbu-Dojo.
Seine wichtigsten Lehrer während der Ausbildung in der Instructor-Class waren Masatoshi Nakayama, Taiji Kase, Motokuni Sugiura und Teruyuki Okazaki. Von allen vier Meistern lernte er Durchhaltevermögen, von Kase die Härte, von Sugiura die saubere Grundschule und von Okazaki die Beintechniken. Entscheidendes Kriterium ist für Meister Shirai die starke Technik, das Kime, der Ippon. Es geht ihm um die Präzision der Punkt-Techniken.
Mit der Einführung des Bunkai, der Anwendung der Kata, erschließt sich ein tieferes Verständnis des Karate. Es gibt verschiedene Wege für dieses Verständnis der einzelnen Kata. Bunkai gelingt erst dann, wenn alle Techniken in Fleisch und Blut übergegangen sind. Das dauert viele Jahre und bedarf eines intensiven Trainings. Deshalb sollte man in jungen Jahren zunächst den richtigen Ablauf der Kata und der Techniken üben.
Im Jahre 1965 schickte die JKA die vier Instruktoren Kase, Kanazawa, Enoeda und Shirai für acht Monate nach Amerika, Südafrika und Europa. Sie sollten das JKA-Karate durch Vorführungen und Lehrgänge verbreiten. Im Rahmen dieser Aktion weilten sie an dem obenerwähnten Lehrgang in Bad Godesberg. In Südafrika und einigen europäischen Ländern bedeutete dies dann tatsächlich auch den Durchbruch für das JKA Karate. Ab 1966 lebten und unterrichteten diese vier Instruktoren in Europa.
Meister Shirai ist seit 1966 in Mailand ansässig und hat das italienische Karate maßgeblich beeinflußt. Mehrere Generationen von hervorragenden Karateka sind durch seine Schule gegangen und bestimmen heute in führenden Stellungen die Geschicke unterschiedlicher Verbände. Eine zentrale Bedeutung hat nach wie vor das von H. Shirai gegründete und geleitete Istitituto Shotokan Italia (ISI) in Mailand. Es ist praktisch die Kaderschmiede und das Herz des Shotokan in Italien.
Oberstes Ziel ist für Meister Shirai der Frieden mit sich selbst. Dazu muß man immer weiter lernen, um noch besser zu werden. Das wiederum führt zu weitere Zufriedenheit. Als Lehrer muß er gegen sich hart sein, muß seinen Schüler inspirieren. Nur wenn der Schüler etwas vom Geist des Lehrers spürt, wird er versuchen in diesem Sinne etwas für sich selbst im Rahmen seiner Möglichkeiten zu erarbeiten. Meister Shirai freut sich, wenn er bei seinen Schülern in diesem Sinne positive Veränderungen bemerkt. Das motiviert ihn selbst weiterzumachen. Er muß Karate geistig und körperlich trainieren, um selbst Schüler und Meister des Karate zu sein.
So freut es Shirai-Sensei immer wieder, wenn er ältere Karateka aus früheren Tagen beim Training wieder trifft. Er ermuntert sie, mit dem Training fortzufahren, auch wenn das eine oder andere Wehwehchen auftaucht. Man soll mental stark bleiben und sich nicht unterkriegen lassen. Den jüngeren Karateka rät er, Kihon und Kata präzise zu üben, um zu verstehen, wie man immer besser trainieren kann. Für den jungen Wettkämpfer geht es darum, den Wettkampf nur als einen Teil des Karate-Weges zu betrachten. Karate ist mehr, es ist ein sehr langer Weg, der nie endet.
© Dr. Fritz Wendland