Katsunori Tsuyama

Der Chef der Kaderschmiede 

Von der Praxis her ist der erste Karatelehrer unseres Chief-Instructors H. Ochi in Deutschland schon seit über vierzig Jahren kein Unbekannter mehr, denn bei zahlreichen Gasshuku war er als Trainer zugegen. Anläßlich mehrerer Gasshuku hatten wir Gelegenheit, mit Meister Tsuyama über seinen Lebensweg im Karate und seine Vorstellungen über Karate zu sprechen.

K. Tsuyama wurde 1936 in Saga auf Kyushu geboren, wo er auch die Schule besuchte. Auf der Highschool kam er erstmals im Alter von 16 Jahren mit Karate in Berührung. Mit 18 Jahren wechselte er nach Tokyo zur Takushoku-Universität, um Betriebswirtschaft zu studieren und als Sportart Karate zu wählen. Bereits zum Ende des zweiten Studienjahres wurde er Captain der Karatemannschaft der „Taku-dai“. Bei den ersten JKA-Meisterschaften im Jahre 1957, und damit den ersten Karate-Meisterschaften überhaupt in Japan, errang er den zweiten Platz im Kumite-Shiai hinter Hirokazu Kanazawa.

In seinem vierten Studienjahr war er der Karatelehrer unseres Bundestrainers H. Ochi, der sich als Student der Wirtschaftswissenschaften auch an der Takushoku-Universität eingeschrieben hatte. Nach Abschluß des Studiums ging K. Tsuyama nach Saga zurück, um als Betriebswirt in einem Unternehmen zu arbeiten. Später trat in die Firma seiner Frau ein. Neben seiner beruflichen Tätigkeit unterrichtete er Karate an der Saga-Universität und einer Highschool sowie Selbstverteidigung an einer Militärakademie. Karate nahm allmählich einen immer größeren Teil seiner Zeit in Anspruch, so daß er schließlich 1968 das Angebot der Takushoku-Universität, als Sportdozent nach Tokyo zurückzukehren, annahm. Während er an der Universität Karate unterrichtete, studierte er an der Budo-Abteilung der Pädagogischen Hochschule in Tokyo allgemeine Sportwissenschaften. Nach vier Jahren legte er sein Examen ab und wurde schließlich Sportdozent an seiner alten Alma mater. Zwischendurch hatte er auch ein Jahr am Honbu Dojo der JKA unterrichtet. Diese Tätigkeit gab er aus Zeitgründen wieder auf, kurz bevor Ochi-Sensei nach Deutschland kam. Seit dem Tode von M. Nakayama leitet K. Tsuyama die Sportabteilung der Takushoku-Universität. Generationen von hervorragenden Karateka, sei es als JKA-Instruktoren oder als Spitzenathleten der JKA bzw. des nationalen japanischen Verbandes JKF, sind von ihm an der Takushoku-dai geprägt worden. Auch ein sehr schwerer Unfall (er wurde als Fußgänger von einem Kraftwagen überfahren) vor einigen Jahren, hat seine Schaffenskraft nicht gebrochen. Durch hartes Training hat er sich körperlich wieder gut erholt, so daß er auch im Alter von 63 Jahren noch topfit ist.

Die Frage, ob Karate „Budo“ ist, liegt nach seiner Meinung an der Betrachtungsweise, der Einstellung des einzelnen. Karate, wie es in Japan betrieben wird, hat viel vom Kendo übernommen. Kendo ist zweifellos die „Seele“ des Budo. In Okinawa wurden nur die Kata geübt, es gab kein Kihon. Letzteres wurde nach dem Vorbild des Kendo eingeführt. Das karatespezifische Kihon entstand durch das Zerlegen der Kata in einzelne Sequenzen. Dabei wurden auch die japanischen Namen für die Karate-Kata durch eine Kendo-Richtung (Jigan Ryu) aus Kagoshima beeinflußt. Besonders Sokon Matsumura (Shito Ryu), der aus Kagoshima stammte, prägte diese Richtung. Zu jener Zeit war Kendo in viele Stilrichtungen zersplittert, heute ist es vereint. Das wäre auch für Karate wünschenswert. Ursprünglich gab es jeweils nur eine Kata, aber durch die körperlichen Unterschiede der einzelnen Meister setzten sich allmählich viele Variationen durch, die heute die Vielzahl der Ausführungen erklären.

Die im Shotokan praktizierten Kata kommen ursprünglich von den Meistern Itosu und Azato (Shito Ryu) und wurden von Gichin Funakoshi in ihre jetzige Form gebracht. Meister Itosu wiederum hatte vom Goju Ryu gelernt und die Kata in die ihm genehme Art umgewandelt. Nach K. Tsuyamas Ansicht wäre es wünschenswert, wenn Karate sich auch wieder auf eine Linie wie das Kendo einigen könnte und von der immer weiter fortschreitenden Zersplitterung fortkäme.

Diese Zersplitterung des Karate ist jedoch nicht nur technisch, sondern auch politisch bedingt. Die fortschreitende Versportlichung des Karate in den nationalen Verbänden und im Weltverband WKF, der nach olympischen Ehren strebt, führt dazu, daß etliche Gruppen sich abspalten, weil sie diese Entwicklung nicht mitmachen wollen. Damit wird eine Vereinheitlichung des Karate natürlich immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich. Besonders bedauerlich ist dabei die unrühmliche Rolle des nationalen japanischen Verbandes JKF, der eigentlich nur noch politisch agiert und jegliche technische Führungsrolle auf Weltebene eingebüßt hat.

Auf die Frage, wie er sich den Erfolg von seinem „Schüler“ H. Ochi in Deutschland erklärt, meint K. Tsuyama, daß unser Chief-Instructor seiner technischen Basis in den über vierzig Jahren in Deutschland treu geblieben ist: Kihon und Kata. Sie sind seiner Meinung nach die Grundlage für ein richtiges und lebenslanges Karate. Kumite ist auch wichtig als Selbsterfahrung für junge Leute, darf aber nicht zum Selbstzweck werden. Wenn Kumite und Wettkampf in einem Verband im Vordergrund stehen, dann folgt automatisch die Politisierung, weil es nur noch um Medaillen und äußere Erfolge geht. Dies hat er als langjähriger Bundestrainer für Kata in der JKF schmerzlich erfahren müssen.

Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an H. Ochi ist für Meister Tsuyama ein sichtbarer Ausdruck für das ständige Bemühen, Karate in seinen einfachen Formen immer wieder in jedem Dojo zu lehren. Er sieht es als Dank und Anerkennung für die jahrzehntelange Arbeit vor Ort an der Basis, für das Unterrichten der Karateka vom Weiß- bis zum Schwarzgurt.

Katsunori Tsuyama ist verheiratet und hat einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn ist Dozent für Deutsch an der Fremdsprachen-Universität Gaikokugo in Tokyo. Sein Bruder Katsuhiro Tsuyama lebt als Geschäftsmann in Kyoto und ist ebenfalls Karatemeister. Auch er war schon mehrmals als Trainer bei einem Gasshuku in Deutschland und hat zahlreiche deutsche Karateka bei Besuchen in Kyoto als großzügiger Gastgeber bewirtet.

Wir danken Frau Ako Sanchome für ihre Hilfe beim Dolmetschen.

© Dr. Fritz Wendland